Ohne Liebe wird es teuer!

Frankfurter Allgemeine Zeitung (Zeitgeschehen)

Seite 8 – Samstag, 21. Dezember 2019 – Nr. 297

Ohne Liebe wird es teuer

Der Einfluss der Eltern-Kind-Bindung auf die sozialen Kosten für alle Von Karin Truscheit

Die Hand an der Wiege bewegt die Welt. Und ist es die Hand des Vaters, hat sie offenbar weit mehr Einfluss auf die Entwicklung des Kindes (und die Welt) als bislang angenommen. Das war das unerwartete Ergebnis einer großangelegten Langzeitstudie, die in Großbritannien untersucht hat, welche Sozialkosten Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten verursachen. „Das Ergebnis hat auch uns sehr überrascht“, sagt der an der Studie beteiligte Christian Bachmann, Kinder- und Jugend- psychiater am Universitätsklinikum Ulm. Denn erwartet hatten er und seine britischen und amerikanischen Kollegen zwar das zentrale Ergebnis der Studie: Kinder und Jugendliche, die durch antisoziales Verhalten auffallen, verursachen höhere Kosten.

Unerwartet war allerdings das zweite Resultat: Diese Kosten waren um ein Vielfaches höher, wenn ein Kind keine sichere Bindung an seine Mutter aufwies. Doch am höchsten waren die Kosten, wenn ein Kind über keine sichere Bindung an seinen Vater verfügte.

Die Studie „The cost of love: financial consequences of insecure attachment in antisocial youth“, die im „Journal of Child Psychology and Psychiatry“ erschienen ist, hat nach Angaben der Autoren das erste Mal die finanziellen Folgen von Bindungsunsicherheit in den Blick genommen. Damit sind Unterstützungsleistungen für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche gemeint: die Spannweite reicht von Therapien über Heim- und Krankenhausaufenthalte, Schulförderung, Erziehungsberatung oder Suchthilfe bis hin zu Bewährungsprogrammen nach Straffälligkeit. Diese Kosten fallen demnach um so geringer aus, je sicherer die Bindung an Mutter oder Vater ist.

Doch wie misst man, ob eine Bindung sicher oder unsicher ist? Bei kleinen Kindern sei das überwiegend mit Beobachtung zu leisten, erklärt Bachmann. Man schaut zum Beispiel, wie sich das Kleinkind verhält, wenn die Mutter aus dem Raum geht und nach einiger Zeit wiederkommt. Bei älteren Kindern verwendeten die Forscher für die Studie ein validiertes Interviewverfahren, das „Child Attachment Interview“. Für die Studie wurden dazu 174 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche im Alter zwischen drei und 17 Jahren befragt. Rund 70 Prozent waren Jungen. Den ermittelten Grad der Bindung haben die Forscher dann in Relation zu den Kosten gesetzt, die der Staat für diese Kinder aufgewendet hat: Für Kinder mit einer sicheren Bindung an die Mutter waren insgesamt Kosten in Höhe von umgerechnet 8000 Euro aufgebracht worden. Kinder mit einer unsicheren Mutterbindung schlugen hingegen mit rund 12000 Euro zu Buche. Und hier trat dann der große Unterschied zutage, als die Kosten in Relation zur Bindung an den Vater gesetzt wurden: Für Kinder mit einer sicheren Bindung an ihren Vater waren vergleichsweise geringe finanzielle Aufwendungen in Höhe von rund 1600 Euro angefallen.

War die Bindung an den Vater jedoch unsicher, war der Unterschied sehr viel größer: Rund 17 000 Euro kostete die Unterstützung dann – mehr als das Zehnfache. Die finanziellen Auswirkungen einer unsicheren Bindung an den Vater könnten sogar noch gravierender sein, folgern die Forscher: Da die Sozialkosten weiter zunehmen, je älter die Jugendlichen werden, führt also eine unsichere Bindung über eine große Lebensspanne hinweg zu erheblichen Auswirkungen. Der große Stellen- wert der Bindung ist demnach eindeutig nachgewiesen: Denn die Kosten für unsicher gebundene Kinder sind auch dann höher, wenn bei den Probanden weitere „Risikofaktoren“ herausgerechnet wurden, die ebenso zu erhöhten Sozialausgaben beitragen können: Dazu zählen der sozioökonomische Hintergrund der Familien, ein höheres Alter der Kinder, männliches Geschlecht und der Intelligenzquotient.

Eine sichere Bindung an Mutter, Vater oder beide Elternteile bietet allen Kindern – unabhängig von der sozialen Schicht – offenbar das erforderliche Rüstzeug für die Fährnisse des Lebens: Sie haben nach Einschätzung der Wissenschaftler vermutlich seltener psychische Probleme, können sich besser anpassen und mit Konflikten umgehen, sind zudem „resilienter“, können also Frust und Niederlagen besser bewältigen. Das Gegenteil ist demnach der Fall bei Kindern mit Bindungsunsicherheit: Das Risiko für psychische Erkrankungen ist höher, ebenso das Risiko, in einem Heim untergebracht zu werden oder die Schule abzubrechen. Und am besten gerüstet sind demnach Kinder, die sowohl an Mutter und Vater sicher gebunden sind. Zudem können Bindungen auch „transgenerativ“ wirken: Unsicher gebundene Mütter oder Väter geben diese Beziehungsmuster häufig an ihre Kinder weiter.

Eine Erklärung lautet: Um ein stabiles Vertrauensverhältnis zu Kindern aufzubauen, müssen Mütter wie Väter feinfühlig sein und prompt sowie angemessen auf deren Bedürfnisse reagieren. „Über diese Fähigkeiten verfügen eher Männer mit einem emotional ausgeglichenen Charakter. Diese Persönlichkeitszüge können auf die Kinder abfärben. So erlernen sie also soziale Kompetenzen, die für das gesamte Leben von Vorteil sind.“ Zudem wiesen jüngste Forschungsergebnisse darauf hin, dass eine engere Bindung an die Väter dazu führe, dass Kinder ihre Emotionen besser kontrollieren könnten und daher besser in ihrer „peer group“ zurechtkämen.

Was sollte nun aus diesen Erkenntnissen für die Sozialpolitik folgen? „Wir brauchen gute Bindungsangebote für junge Kinder – sowohl im familiären Rahmen als auch in der Fremdbetreuung“, sagt Bachmann. Dies sei in Kitas insbesondere für sehr junge Kinder aufgrund des Personalschlüssels meist nicht gewährleistet. „Weint ein Kind, kann nicht immer sofort reagiert werden.“ Dazu komme ein häufiger Personalwechsel, der den Aufbau einer engen Bindung behindere. Bachmann rät zudem, mehr in wissenschaftlich validierte Elternkurse zu investieren. Er verweist auf Großbritannien, wo die „National Academy for Parenting Practitioners“ über 3000 Berater ausgebildet habe, die Eltern im ganzen Land nach hohen Qualitätsstandards darin schulten, wie man Kinder mit mehr Zuwendung erziehe. Der Anspruch an die Effizienz der Kurse laute: „Wir wollen das Beste!“ In Deutschland hingegen gebe es eine Vielzahl von Angeboten mit ungeklärtem Nutzen.

Was kommt, wenn Familie geht?

Früher lernte man es anhand von Geschwistern. Nebenbei. Heute werden Babys in Schulen gebracht, um Kindern Empathie, Rücksichtnahme und emotionale Intelligenz beizubringen. So weit ist es schon gekommen. Die Journalistin und Mutter von vier Kindern, Birgit Kelle, denkt darüber nach, wie Familien heute teuer „entkernt“ werden , und wie  wir Stück für Stück bisherige familiäre Erziehung und soziales Lernen und damit eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit in die Kindergärten und Schulen und somit an den Staat auslagern.

Den ganzen Text finden Sie hier:
http://www.theeuropean.de/birgit-kelle/6693-auslagerung-der-kindererziehung-aus-der-familie