Gastbeitrag von Jürgen Borchert: Stranguliert die Familien nicht
Wo die Angst vor Armut wächst, haben Extremisten leichtes Spiel. Die Politik scheint diese Lektion vergessen zu haben. Sie leistet sich ein Abgaben- und Steuerwesen, das gegenüber Familien zutiefst unsozial ist. Plädoyer für eine faire Lastenverteilung – und den Mut, das System ganz neu zu denken.
Jahrzehntelang hat Kinderarmut die sozialpolitische Debatte beherrscht. Nun kommt die wachsende Angst vor Altersarmut hinzu. Der Demokratie stehen damit harte Zeiten bevor, denn die Existenzangst breiter Massen öffnet Extremismus Tür und Tor. Das war die Ursprungslektion, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg begriffen hat. Hieran muss man sich erinnern, statt selbstgerecht die Wähler der AfD zu beschimpfen.
Wer will, dass Deutschland wieder zusammenwächst, statt weiter auseinanderzudriften, muss die Sozialpolitik in den Fokus des Wahljahres 2017 stellen, die Armutsursachen präzise diagnostizieren, überzeugende Therapiekonzepte durchsetzen. An die Spitze der Agenda gehört die doppelte Kinderarmut. Aus ihr resultiert die wachsende Altersarmut.
Denn erstens beruht die „kollektive Alterung“ zu mehr als zwei Dritteln auf dem Geburtenmangel, nicht auf der wachsenden Lebenserwartung; seit 1964 wurde die Zahl der jährlichen Geburten von 1,4 Millionen auf 700 000 glatt halbiert. Nicht Überalterung, sondern fehlende Unterjüngung ist das Problem. Und zweitens beschädigt nichts die Bildungsfähigkeit des Nachwuchses so nachhaltig wie Armut im Kindesalter; das schlägt auf die Produktivitätsentwicklung durch, die für die Bewältigung der wachsenden Altenlasten entscheidend ist.
Altersarmut folgt auf Kinderarmut
Stand 1964 nur jedes 75. Kind unter sieben zeitweise oder auf Dauer im Sozialhilfebezug (bei damals relativ deutlich höheren Regelleistungen), war es 2015 mehr als jedes fünfte insgesamt – eine Steigerung auf das 16-Fache! Für die Renten von morgen sind nicht die Beiträge von gestern, sondern die Lebensumstände der Kinder von heute entscheidend. Das im Wahljahr 1957 mit der damals in Kraft gesetzten „Produktivitätsrente“ gegebene Rentenversprechen garantiert nur, dass die Versorgung der Alten im Einklang mit der Lebenshaltung der Jungen steht; folgerichtig müssen die Alten die Armut der Jungen teilen.
Die Kinderarmut ist, entgegen dem Mantra der Politik, weder das Ergebnis von Massenarbeitslosigkeit noch der Faulheit deutscher Mütter; denn sie nahm trotz Rückgangs der Arbeitslosigkeit und Steigerung der Müttererwerbstätigkeit in den vergangenen zehn Jahren weiter zu. Auf die Sprünge bei der Lösung dieses Rätsels hilft die Beobachtung, dass selbst die vierköpfige Durchschnittsfamilie mit dem sozialversicherten Durchschnittseinkommen von 35 000 Euro brutto (2016) trotz der Gewährung von 4560 Euro Kindergeld am Jahresende das steuerrechtliche Existenzminimum netto um rund 1600 Euro unterschreitet.
Beim Single hingegen verbleibt ein Plus von 13 421 Euro. Der Vergleich mit ihm fördert dabei den alarmierenden Befund zutage, dass die Sozialbeiträge der Eltern mit 7148,75 Euro fast genauso hoch sind wie die des Singles mit 7236,25 Euro; beim sogenannten Arbeitgeberbeitrag, der tatsächlich jedoch zu 100 Prozent vorenthaltener Lohn ist, sind die Beträge mit jeweils 6763,75 Euro sogar identisch.
Familien am stärksten belastet
Der winzige Unterschied beruht allein auf dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. April 2001 zur sozialen Pflegeversicherung; die Richter machten in der Nichtberücksichtigung des systemerhaltenden Beitrags „Kindererziehung“ einen Gleichheitsverstoß zulasten von Eltern dingfest und forderten eine Korrektur. Obwohl die Grundsätze dieses Urteils auf die Renten- und Krankenversicherung zu übertragen sind, hat der Gesetzgeber diese Konsequenzen nicht gezogen.
Sozialbeiträge belasten Familien, gemessen am einzig validen Maßstab des Existenzminimums, damit je nach Kinderzahl n-mal so hart wie Personen ohne Kinder, deren Versorgung mit Renten-, Gesundheits- und Pflegeleistungen im Alter aber zu 100 Prozent von den Kindern anderer Leute zu bewerkstelligen ist. Die Familien werden stranguliert: Die Sozialbeträge haben sich seit den frühen Fünfzigerjahren auf rund 40 Prozent mehr als verdoppelt.
Die Rentendebatte offenbart nun das Schachmatt der Politik: Erhöht sie nämlich die Beiträge, um das Rentenniveau zu stabilisieren, produziert sie unweigerlich einen Tsunami der Kinderarmut. Pumpt sie statt Beitragserhöhungen weitere Steuern in das System, werden Familien erneut relativ härter getroffen, weil der Löwenanteil der Einnahmen des Fiskus aus Verbrauchssteuern (vor allem der Mehrwertsteuer) stammt, welche ebenfalls Familien relativ härter treffen.
Auf starke Schultern verteilen
Die Schlacht um die Zukunft (auch der für die Kalamitäten verantwortlichen „Altparteien“) wird deshalb auf dem Feld der Sozialversicherung entschieden. Dass der Staat die Bezieher hoher wie niedriger Einkommen mit demselben Beitragstarif zur Kasse bittet, ist himmelschreiend ungerecht; die Erste Hilfe muss deshalb darin bestehen, in der Sozialversicherung Freibeträge für das Existenzminimum der Kinder einzuführen – ähnlich wie bei der Einkommenssteuer.
Die Beitragsbemessungsgrenzen sind abzuschaffen, denn die Freistellung ausgerechnet der leistungsfähigsten Lohnbestandteile von sozialer Verantwortung bewirkt zwangsläufig eine massive Umverteilung von unten nach oben. Dass Abgeordnete, Beamte und Richter sowie große Teile der Selbstständigen, also die wirklich starken Schultern, von der sozialen Verantwortung befreit sind (denn sie zahlen weit weniger Abgaben), verhöhnt das Sozialstaatsprinzip, das wirtschaftliche Leistungsfähigkeit an soziale Verantwortung binden will.
Eine Verteilungsordnung, die soziale Lasten auf die Schultern der Schwächeren abwälzt, produziert bei jeder Flüchtlings-, Euro- oder sonstigen Krise exponentiell wachsende Existenzängste und wird zum Brandbeschleuniger, mit dem Demokratiefeinde ihre Suppen kochen. Der Publizist Heribert Prantl hat es schön auf den Punkt gebracht: Der Sozialstaat und die Demokratie sind „siamesische Zwillinge: Stirbt der eine, brauchen wir ein Doppelgrab“.
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Bärbel Fischer für Forum Familiengerechtigkeit