Familienexperte Jonas Himmelstrand kritisiert sein Heimatland Schweden: Die Frauen werden unter Druck gesetzt, voll zu arbeiten. Wer seinen Nachwuchs selber großziehen will, hat es schwer. Die breite Krippenbetreuung sei schädlich, sagt er.
Von Daniela Niederberger
Herr Himmelstrand, Schweden gilt weit herum als strahlendes Vorbild in Bezug auf seine Familienpolitik. Weshalb?
Schweden hat eine gute Reputation, was das Sozialsystem betrifft, die Stellung der Frau und die starken Gewerkschaften. Schweden wird als modern angesehen.
Ist Schweden ein guter Ort für Kinder und für Familien?
Es kommt drauf an, woran Sie glauben. Wenn Sie glauben, es ist gut für beide Elternteile, voll zu arbeiten und die Kinder fünf Tage die Woche in eine sehr günstige Krippe schicken zu können, dann werden Sie Schweden komfortabel finden. Sie werden es als Mutter schätzen. Ob es gut ist für die Kinder, ist eine andere Frage. Es sieht gut aus.
Seit rund dreißig Jahren ist es in Schweden so, dass Mütter arbeiten und die Kinder vom Staat betreut werden. Gibt es Studien darüber, wie sich das auswirkt?
Eine Studie der schwedischen Regierung zeigte, dass sich in den letzten 25 bis 30 Jahren die psychische Gesundheit der Jugendlichen stark verschlechtert hat, verglichen mit elf anderen europäischen Ländern. Die Schulleistungen haben dramatisch abgenommen, vor allem in den mathematischen Fächern. Eine unabhängige Studie, in der 1500 Lehrer befragt wurden, zeigte, dass Eltern ihre Aufgabe weniger gut wahrnehmen als früher. Sie wissen nicht, wie Grenzen setzen, und sie verstehen nicht, was ihre Kinder wollen und brauchen. (…)
Die erste Generation schwedischer Kinder, die in Krippen betreut wurde, ist jetzt erwachsen. Was sagen diese Leute? Gibt es Vorwürfe an die Adresse der Eltern?
Manche kritisieren ihre Eltern, manche nicht. Sie fragten mich: «Ist Schweden ein gutes Land für Familien und Kinder?» Ja, wenn man das System gut findet. Möchte man es aber anders machen, als die Regierung will, wird es schwierig. Eltern, die ihre Kinder länger zu Hause haben möchten als die vorgegebenen achtzehn Monate – so lange dauert der bezahlte Babyurlaub –, und Eltern, die ihre Kinder gar selber großziehen wollen, werden sozial marginalisiert. Es gibt kritische Fragen: jedes Mal, wenn man mit dem Kind zum medizinischen Check-up geht; die Nachbarn fragen: «Warum sind Ihre Kinder nicht in der Krippe?» Ich gehöre einer Organisation an, Haro, die sich dafür einsetzt, dass man mit den Kindern zu Hause sein kann. Allen Mitgliedern geht es gleich: Man wird ausgeschlossen, komisch angeguckt, in den Medien kritisiert. In jeder Behörde, mit der man zu tun hat, spürt man eine feindliche Gesinnung.(…) (…) Auch Soziales wird von Generation zu Generation weitergegeben. Wenn diese Kinder nicht erleben, wie Familie und Elternschaft funktioniert, werden sie es später, sobald sie eigene Familien haben, noch schlechter machen. Und bald könnte das ganze Wissen um Elternschaft verloren sein, was für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft gefährlich wäre. Es könnte sein, dass, wer als Kind in die Krippe musste, später sagt: «Für meine Kinder bleibe ich zu Hause.» Kann man so etwas beobachten? Schweden hat kein Interesse daran, diese Dinge genauer anzuschauen. Obwohl mein Land eine hohe Reputation in Bezug auf seine Forschung genießt. Die Krippen-Politik, seit rund dreißig Jahren installiert, ist ein riesiges soziales Experiment …
… das man evaluieren müsste.
Genau. Aber die Regierung will nicht. Ich habe gehört, dass ein schwedischer Minister danach gefragt wurde, und er sagte: «Wir können die Verantwortung für allfällige Resultate einer solchen Studie nicht übernehmen.» Es könnte sich ja zeigen, dass das Ganze nicht gut ist. Und dann? Der Ruf Schwedens könnte mit ein oder zwei Untersuchungen zerbröseln. Darum werden Leute wie ich, die ihre Kinder selber großziehen wollen und das laut sagen, so hart angegangen. (…) Kürzlich gab es dazu einen Fernsehbeitrag. Eine Krippen-Betreuerin gab zu, den Eltern nicht alles zu sagen. Sie würden sich sonst zu sehr sorgen. «Also sagen wir, wenn sie fragen, alles laufe tipptopp», erklärte sie. Die Befürchtungen der Eltern zu zerstreuen, ist ihr Job. Vor einigen Jahren schrieben ein bekannter schwedischer Psychiater, eine Erziehungsexpertin und eine Psychologin ein Buch: «Krippe für unter Dreijährige, gut oder schlecht?». Sie sagten, die Krippen seien in Schweden nicht gut genug, einige Kinder würden geschädigt. Auch die Leute, die dort arbeiten, würden verletzt. Denn sie könnten den Job nicht so machen, wie sie müssten. Die Gruppen sind zu groß. In den achtziger Jahren durften in der Gruppe der Kleinsten [unter drei Jahre] nicht mehr als zehn Kinder sein. Diese Regelung fiel weg, jetzt sind es bis zu siebzehn. Bei drei Betreuerinnen. Wenn eine krank ist, sind es bloß noch zwei, es gibt keinen Ersatz. Wenn zwei krank sind, noch eine. Das kommt regelmäßig vor. Diese eine Person muss sich bei siebzehn Kleinkindern um Windeln und Essen kümmern. Ein Krippenplatz kostet 15.000 Euro im Jahr. Wollte man mehr Personal einstellen, wäre man bald bei 20.000 bis 25.000 Euro. Schweden kann sich das nicht leisten.
Was kostet der Krippenplatz die Eltern?
Praktisch nichts. Er ist zu 90% subventioniert.
*Jonas Himmelstrand ist Autor und Gründer des Mireja Institute. Beim Workshop der EU-Kommission „CHILD WELL BEING AND QUALITY OF CHILDCARE“ am 30. Juni 2011 war er als Experte geladen, um über das schwedische Krippenbetreuungssystem zu berichten
Einen weiteren, ausführlichen Text von Jonas Himmelstrand bei HP-PLUS