Ein Angriff auf die Grundlagen des Rechtsstaats

Eine von der ÖDP unterstützte Verfassungsklage gegen das 2007 eingeführte Elterngeld-Gesetz wurde November 2011 von einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts „nicht zur Entscheidung angenommen“. Die Begründung steht im Widerspruch zum Grundgesetz und zu bisheriger Rechtssprechung. 

von Dr. Johannes Resch

Haben Grundrechte eine „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“? Dumme Frage, sollte man den- ken. Schließlich gehört es zu den Aufgaben der Verfassung, die Grundrechte zu schützen. Aber mit der Behauptung, es bestehe keine „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“ (gemäß § 93a Bundesverfassungsgerichtsgesetz) wurde im November 2011 die Verfassungsbeschwerde einer Mutter von einer aus drei Richtern bestehenden Kammer „nicht zur Entscheidung angenommen“. Es ging um Grundrechte, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zuvor als eine „Leitidee unserer Verfassung“ bezeichnet hatte.

Bei Nichtannahmebeschlüssen ist eine inhaltliche Begrüdung zwar nicht nötig, trotzdem hat sich die Kammer zu Aussagen hinreißen lassen, die der Rechtsprechung des BVerfG widersprechen und seine bisherige Auffassung zu Grundrechten von Eltern auf den Kopf stellen. Das ist ein klarer Angriff auf die Grundlagen des Rechtsstaates, der nicht ernst genug genommen werden kann, da er ausgerechnet von einem Teil des BVerfG ausgeht. Seither folgen Sozialgerichte und Landessozialgerichte dieser Sichtweise wie die Lem- minge, obwohl sie dazu nicht verpflichtet sind. Nichtannahmebeschlüsse sind nur für die jeweiligen Verfahren „unanfechtbar“.

Nichtannahmebeschluss widerspricht BVerfG-Urteilen

Eine vierfache Mutter hatte gegen den Berechnungsmodus des Elterngeldes geklagt. Sie erhielt nur deshalb den Mindestbetrag, weil sie wegen Betreuung ihrer älteren Kinder – darunter ein zweijähriges – vor der Geburt nicht erwerbstätig war. Im Nichtannah- mebeschluss vom 9. November 2011 (1BvR 1853/11), Randnummer 18, steht dazu: „Die mittelbar angegriffene Regelung ist zudem im Hinblick auf den Verfassungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 GG ge- rechtfertigt. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Gleichberechtigung der Geschlechter in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchzusetzen und überkommene Rollenverteilungen zu überwinden.“

In einem Urteil vom 17. Janu- ar 1957 (BVerfG 6, 55 [81]) waren die damaligen Richter noch einer ganz anderen Auffassung gewesen: „Wie bereits oben dargelegt, ist Art. 6 Abs. 1 GG im Sinne der klassischen Grundrechte ein Bekenntnis zur Freiheit der spezifischen Privatsphäre für Ehe und Familie; es entspricht damit einer Leitidee unserer Verfassung, nämlich der grundsätzlichen Begrenztheit aller öffentlichen Gewalt in ihrer Einwirkungsmöglichkeit auf das freie Individuum. Aus diesem Gedanken folgt allgemein die An- erkennung einer Sphäre privater Lebensgestaltung, die staatlicher Einwirkung entzogen ist (BVerfGE 5, 85 [200, 204]; 7, 32). Zu dem Gehalt solcher privaten Entschei- dungsfreiheit der Ehegatten gehört auch die Entscheidung darüber, ob eine Ehefrau sich ausschließlich dem Haushalt widmet, ob sie dem Manne im Beruf hilft oder ob sie eigenes marktwirtschaftliches Einkommen erwirbt.“

Die Aussagen der Kammer stellen die bisherige Auffassung des BVerfG zu Grundrechten von Eltern auf den Kopf. 

Damit widerspricht die Kammer ganz offen dem bereits 1957 als „Leitidee unserer Verfas- sung“ definierten Grundrecht der Eltern, ihre innerfamiliäre Aufgabenverteilung ohne Ein- flussnahme des Staates zu regeln. Der von der Kammer zitierte Grundgesetzsatz soll eigentlich die Gleichberechtigung der Geschlechter stärken, wird hier aber benutzt, um eine zusätzliche Benachteiligung der von der Beschwerdeführerin vertretenen Gruppe ohnehin schon benachteiligter, kinderreicher Mütter zu rechtfertigen. Das ist eine absur- de Argumentation, die bei einer „Annahme zur Entscheidung“ nicht haltbar gewesen wäre.

Auch ein Urteil vom 10. November 1998 (BVerfG 99, 216, 1. Leitsatz) zeigte eine andere Auf- fassung: „Art. 6 Abs. 1 GG enthält einen besonderen Gleichheitssatz. Er verbietet, Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen. Dieses Benachteiligungs- verbot steht jeder belastenden Differenzierung entgegen, die an die Existenz einer Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) oder die Wahrnehmung des Elternrechts in ehelicher Erziehungsgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) anknüpft.“

Die Beschwerdeführerin wurde nur deshalb massiv benachteiligt, weil sie ihr Elternrecht, ihre älteren Kinder länger als ein Jahr selbst zu betreuen, wahrgenommen hatte. Das Urteil des BVerfG verbietet eine solche „belastende Differenzierung“. Die Kammer setzte sich über dieses Verbot hinweg.

Kammer übernimmt Auffassung der Bundesregierung  

Der Nichtannahmebeschluss zeigt, dass die Kammer kritiklos die Auffassung der Bundesregierung übernahm, ohne die bisherige Rechtsprechung des BVerfG noch die dazu vorliegende wissenschaftliche Fachliteratur zu beachten. Einer Entscheidung des BVerfG wurde dadurch ausgewichen, dass der Beschwerde keine „grundsätzliche verfas- sungsrechtliche Bedeutung“ zuerkannt wurde.

Wenn fundamentale Grundrechte, die das BVerfG zu einer „Leitidee unserer Verfassung“ erklärt hatte, auf diese Weise einfach beiseite geschoben wer- den, sollten bei allen Bürgern, denen der Rechtsstaat lieb ist, die Alarmglocken läuten. Dann gelten die Grundrechte nur noch für die, die das Geld haben, sie mit Hilfe teurer Rechtsanwälte auch durchzusetzen. Kinderreiche Familien wie die der Beschwerdeführerin haben da von vornherein schlechte Karten.

Der Kammerbeschluss zeigt: Der Trend unserer von Wirtschaftsinteressen geprägten Ge- sellschaft, kinderreiche Familien rücksichtslos verarmen zu lassen, obwohl sie den Rentenreichtum der Kinderlosen erarbeiten, hat inzwischen auch die Justiz ergriffen. Die Hoffnung, dass zumindest noch das BVerfG – wie es in der Vergangenheit öfters geschehen ist – auch in Zukunft die Grundrechte der Eltern verteidigt, droht am politischen Horizont zu verschwinden.

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johannes.resch@t-online.de

 

 

 

Ein Gedanke zu „Ein Angriff auf die Grundlagen des Rechtsstaats

  1. Ich dachte immer, dass unsere Justiz eine unabhängige Kraft im Staat ist. Immer häufiger stelle ich jedoch fest, dass sie mit ihren Auslegungen mehr und mehr zum Erfüllungsgehilfen des Zeitgeistes und der politischen Machthaber wird. Es ist beängstigend.

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