Und wenn sie nicht gestorben sind, ….

Geht es Ihnen auch manchmal so? Sie lesen oder erinnern sich an eine Geschichte im Märchenbuch aus Kindertagen. Da fällt es Ihnen wie Schuppen von den Augen: die Geschichte ereignet sich erneut, jetzt und hier. „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Verschlüsselt gibt uns die alte Sage ihre Botschaft preis, wenn wir uns ihrer Weisheit öffnen.

Wir alle kennen die traurige Mär vom Spielmann, der die Hamelner Bürger mit seinen Zaubermelodien von der Rattenplage befreite. Zu Tausenden müssen die widerlichen Tiere in der Weser ertrinken. Ohne seinen versprochenen Lohn jagen die Räte den „Spitzbuben“ jedoch aus der Stadt. Der kehrt verbittert zurück und lockt nun mit seinem betörenden Flötenspiel die Kinder aus den Häusern. Wohin? Das Märchen endet tröstlich. In einem Zauberberg soll es ihnen gut gehen. Ganz leise kann man noch heute aus der Ferne den fröhlichen Gesang der Kinder vernehmen.

Ja, heute werden die Bürger und die Kinder von Hameln wieder lebendig.

Mit seinen schmeichelnden Zaubertönen von Emanzipation, Karriere und Vereinbarkeit, mit dem süßen Klang von weiblicher Unabhängigkeit und Befreiung und mit seinen betörenden Melodien vom Krippenparadies, von frühkindlicher Bildung und Quality-Time lockt der bunt gekleidete Gaukler die widerlichen Plagegeister aus den Häusern. „Unterdrückung“, „Ohnmacht“, „Bevormundung“ und „Abhängigkeit“ heißt das garstige Getier, das im reißenden Strom der Geschichte sein Ende findet.

Eine neue Zeit bricht an. Erleichtert atmen die Mütter auf. Weder Ehemänner noch Kinder werden die Mütter künftig von der Erwerbsarbeit abhalten können. Ein fröhliches Fest wäre nun angesagt gewesen. Doch daraus wird nichts. Der Geiz der Ratsherren schlägt um in Gier. Von früh bis spät kümmern sich die Bürger nun um die Geschäfte und füllen die Kassen der Konzerne. Keine Mutter soll mehr zuhause bleiben, money, money, money! Immer schneller dreht sich das Hamsterrad. Das Klingeln der Münzen und das Rascheln von Geldscheinen und Aktienpaketen wird zu Musik in den Ohren der Manager.

Die Bürger, Väter und Mütter fallen erschöpft in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Sie vergessen, nach ihren Kindern zu schauen, zu fragen, was sie bewegt, wonach sie sich sehnen und was sie bekümmert. Väter und Mütter verlieren ihre Söhne und Töchter aus den Augen. Sie legen mit ihrem Kind auch mehr und mehr ihre Zuständigkeit in fremde Arme. Eltern und Kinder werden sich immer fremder. Elternhaus? Das war einmal!

Unbemerkt in all dem Treiben kehrt der Spielmann zurück und spielt die wunderbaren Weisen von Zuneigung und Zärtlichkeit aus längst vergangenen Tagen, die den Kindern so zu Herzen gehen, dass sie aus ihren Betten hüpfen und auf die Straße eilen. Zwischen Tag und Traum versammeln sie sich auf dem „Marktplatz“. Wo sonst? Dort, wo es den Erwachsenen ums Geld geht, um den Handel, um Wirtschaft und Wachstum! Von hier aus geht der Zug singend und tanzend hinaus ins Freie. Sie lassen die Stadtmauern hinter sich, hinter denen für Kinder weder Zeit noch Platz war.

Und als die betriebsamen Bürger und Bosse endlich begreifen, dass mit den Kindern auch ihre eigene Zukunft dahin ist, da beginnt ein Jammern und Wehklagen über den „demografischen Schwund“, über leere Schulen und offene Lehrstellen, über mangelnden Umsatz und leere Sozialkassen, und sie blicken entsetzt in die wüsten Fratzen von  Altersarmut, Pflegenotstand und Einsamkeit.

Wer war der Gaukler? Wer verstand es so meisterhaft, seine Zuhörer zu betören?  Welcher Scharlatan verbarg sich hinter dem rot-grün-gelb schillernden Gewand?

Und die Kinder? Wo sind sie geblieben? Sind sie den Eltern durch die lange Abwesenheit entglitten, entfremdet? Oder wollten sie erst gar nicht geboren werden?  Geborgen und wohl behütet bleiben sie in ihrer Höhle, im Schoß des mütterlichen Zauberbergs.  Dort lassen sie sich wiegen und dürfen ihre Kinderlieder singen.

Ob der verwunschene Berg jemals wieder seine Pforten öffnet und die Kinder freigibt, damit sie unsere Zukunft neu gestalten?

Bärbel Fischer

 

 

 

2 Gedanken zu „Und wenn sie nicht gestorben sind, ….

  1. Märchen, Sagen, Legenden, Bibelgeschichten usw. haben, wenn sie echt / gut sind, neben der oberflächlich lesbaren Handlungs-Ebene eine zweite, die sogenannte Symbol-Ebene, die uns grundsätzliche Dinge vermitteln kann.

    Vom Erkennen- und Deuten-Können, Verstehen-Können ist die Mehrheit der „erwachsenen“ Menschen der zivilisierten Gesellschaft entfremdet – weil sie nicht im Erwachsenen-Bewußtsein, dem „Höheren / wahren Selbst“ zuhause sind, sondern im „Niederen Selbst“ / „Ego“ in der Entwicklung stecken geblieben sind.

    Dieses Entfremdet- bzw. Steckengebliebensein ist eine im weitesten Sinne „psychische Störung“ („mit Krankheitswert“ – wie im Bereich des Gesundheitssystems üblicherweise betont wird), die sich die zivilisierte Gesellschaft vor vielen Jahrtausenden eingehandelt hat. Ich nenne sie die „Kollektive Zivilisations-Neurose“. Ist in jedem Einzelfall grundlegend und auf völlig natürliche Weise heilbar.

    Zur Symbolik der Geschichte vom „Rattenfänger“:
    Zu erkennen ist wohl für jeden der „Tatbestand“ der Undankbarkeit.
    Diese Undankbarkeit hat tiefere – schwerwiegende – Ursachen:
    Die „Kollektive Zivilisations-Neurose“, die „Krankheit der (zivilisierten) Gesellschaft“, die „Entfremdung“ (vom Guten, Wahren, von der Liebe, von der Lebens-Energie, vom göttlichen (Bewußt-)Sein, usw.)
    Daß den Bürgern die Kinder entführt werden, ist symbolischer Hinweis auf den „Verlust der Zukunft“. Eine Gemeinschaft / Gesellschaft, die so geartet / entartet ist wie die Bürger in diesem Märchen vom „Rattenfänger“, ist zum Untergang bzw. Aussterben verurteilt.
    Aus rationaler Sicht läßt sich über die von der „Kollektiven Zivilisations-Neurose“ Befallenen / Beeinträchtigten sagen, daß sie ihre SPIRITUELLE Zeugungsfähigkeit verloren haben; sie können keinen lebensfähigen spirituellen Nachwuchs hervorbringen – weil sie selbst spirituell unfruchtbar (geworden / gemacht worden) sind.
    Nachzuvollziehen ist das gut am Beispiel der Römer und Germanen. Letztere wurden durch die Römer geistig-seelisch-spirituell „kastriert“.

    Daß man die entführten Kinder noch immer von Ferne singen hören kann, ist symbolischer Ausdruck dafür, daß die Möglichkeit ihrer Rückkehr besteht; der Möglichkeit, daß die „Kollektive Zivilisations-Neurose“ GEHEILT werden kann, daß die Menschen wieder geistig-seelisch-spirituell zeugungsfähig werden und entsprechenden Nachwuchs zeugen können.

    Ob und wann das geschieht, liegt JETZT in unserer Hand. Wir, die JETZT Lebenden, können entsprechend unser Bewußtsein wandeln und entsprechend handeln und die Wende herbeiführen – und die entführten Kinder heimholen.

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