Attacke auf die Keimzelle der Gesellschaft


Globalisierung und Neoliberalisierung verändern das Erwerbsleben. Die Arbeitnehmer geraten immer stärker unter Druck und müssen „flexibel“ sein. Das widerspricht den Bedürfnissen der Familien. Die Zeit vieler Eltern für ihre Kinder wird immer knapper. Vernachlässigte Kinder aber entwickeln sich dann oft zu problematischen Persönlichkeiten. Um dem vorzubeugen, brauchen Familien mehr staatlichen Schutz.

von Gertrud Martin, Mutter von 5 Kindern, Gemeinderätin, Vorsitzende des Bundesarbeitskreises „Familienpolitik“ für die ödp.

Flexibler Arbeitsmarkt, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Gleichberechtigung von Mann und Frau – hört sich doch gut an! Aber welche Wirklichkeit verbirgt sich hinter diesen Begriffen für die Familie als zugleich wichtigster und schwächster Institution unserer Gesellschaft?

Ihrem Schutz widmet zwar das deutsche Grundgesetz einen eigenen Artikel, dem jedoch in der politischen Umsetzung nur ansatzweise entsprochen wurde und aktuell immer weniger entsprochen wird. Denn: Die Globalisierung folgt eigenen Gesetzen. Mit ihren neuen Belastungen gefährdet sie explizit die „Keimzelle“ der Gesellschaft. “Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“, der Leitspruch der Neoliberalen, gilt nicht für Eltern. Sie sind unabweisbar für ihre Kinder mitverantwortlich.

Mit dem Hinweis auf einen immer härteren globalen Wettbewerb verlangen Arbeitgeber von ihren Arbeitnehmern:

(1) zeitlich unbegrenzte Verfügbarkeit

(2) Überstunden, am besten unbezahlte

(3) Verzicht auf tariflich festgelegte Mindestlöhne und Kündigungsschutz

(4) Reisefreudigkeit und auch längere Auslandsaufenthalte

(5) häufige Standortwechsel

Das Primat des Wettbewerbs gefährdet die Familie

Das, was die Arbeitgeber von ihren Arbeitnehmern heute zunehmend erwarten, hat für Familien spürbare Konsequenzen:

Zu (1) und (2): Familienzeit wird im gleichen Maß eingeschränkt, wie die Präsenz der Eltern am Arbeitsplatz selbstverständlich erwartet wird. Das heißt zunächst, dass schon bei der Geburt eines Kindes die Mütter nicht länger als unbedingt nötig „zuhause“ bleiben sollen. Das Buchen eines Krippenplatzes auf feste Tageszeiten und Wochentage bleibt nervenaufreibend. Väter und Mütter sind grundsätzlich benachteiligt in der Konkurrenz mit kinderlosen Kollegen.

Zu (2) und (3): Prekäre Arbeitsplätze, das heißt solche, die wegen minimaler Stundensätze trotz voller Arbeitszeit den Arbeitenden nicht das Existenzminimum sichern und zugleich keinen Kündigungsschutz bieten, sind für alle Menschen aber ganz besonders für jene, die für Kinder Verantwortung tragen, eigentlich unzumutbar.

Zu (4): Die Flexibilität, die vor allem von Führungspersonal für längere Reisen erwartet wird, ist für Eltern ebenso vergleichsweise viel schwerer zu verwirklichen als für Kinderlose, zumal wenn beide Eltern eine solche Position einnehmen sollten.

Zu (5): Dasselbe gilt für Umzüge an einen anderen Firmenstandort. Wenn einer der Ehepartner – um den Arbeitsplatz in seiner Firma nicht zu verlieren – am Ort bleiben muss, bleibt nur die Wochenend-Ehe. Um die Verwurzelung von Kindern in Schule und Freundeskreis zu bewahren, muss ein Umzug gründlicher überlegt werden.

Unsichere Jobs verhindern Familiengründung

Junge Menschen erleben den Einstieg in die liberalisierte Arbeitswelt oft bis ins vierte Lebensjahrzehnt zunehmend als Rutschpartie, an deren nicht absehbarem Ende die angestrebte ökonomische Selbstständigkeit nicht verlässlich gegeben ist. Schlecht oder gar nicht bezahlte Praktika, Weiterqualifizierungen ohne überzeugendes Ziel und befristete Arbeitsverträge sind keine Basis, um an die Gründung einer Familie überhaupt nur zu denken. Es ist naheliegend, dass eine ungeplante Schwangerschaft in dieser Situation als Katastrophe gesehen und durch Abbruch beendet wird.

Rentensystem drängt Eltern auf den Arbeitsmarkt

Unser seit 1957 geltendes Rentenrecht fordert den Familien das Aufziehen einer neuen Generation von Rentenzahlern quasi unentgeltlich ab. Zugleich bleiben aber die in der Familie Erziehenden von der durch sie erarbeiteten Alterssicherung weitgehend ausgeschlossen. Dies und steigende Scheidungszahlen lassen auch Mütter und Väter, die eigentlich gerne ihre Kinder einige Jahre selbst zuhause betreuen und erziehen möchten – und alle Umfragen bestätigen, dass dies viele sind –, in Scharen auf den Arbeitsmarkt drängen.

Ein Übriges bewirkt das gängige und sehr eindimensionale Verständnis der Gleichberechtigung der Frauen, die vor allem eine paritätische Beteiligung am außerhäuslichen Erwerbsarbeitsmarkt zum Ziel hat. Das geltende Rentenrecht und das neue Unterhaltsrecht bestätigen diese Sicht zweifellos!

Das Überangebot an Arbeitskräften ist den Arbeitgebern natürlich recht, denn dadurch lassen sich die Lohnkosten senken – zumal die Arbeitnehmerinnen im Schnitt ein Drittel weniger als die männlichen Kollegen verdienen – und die Forderungen an die Arbeitnehmer erhöhen, ohne dass großer Widerstand zu erwarten wäre.

Abwesende Eltern können keine Kinder erziehen

Was aber erwartet die Gesellschaft von den Eltern? Sie sollen selbstverständlich körperlich und seelisch belastbare, leistungsfähige und leistungswillige, „nützliche“ Bürgerinnen und Bürger ins Leben entlassen – oder besser ausgedrückt: der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Die Präsenz der Eltern bei ihren Kindern wird jedoch weitgehend für überflüssig erachtet.

Trotzdem ertönt als erstes der empörte Schrei „Wo sind denn da die Eltern?“, wenn emotional ungebundene Halbstarke randalieren, jegliche Maßstäbe zivilisierten Verhaltens vermissen lassen, Amok laufen, kriminell werden. Sie haben schon im Alter von zwei Jahren gelernt, sich einer Gruppe Gleichaltriger zugehöriger zu fühlen als dem Elternhaus. Für sie haben die Rädelsführer das Sagen, auch wenn sie geradezu sadistische „Mutproben“ verlangen und „Schwächlinge“, die dabei versagen, dem Mobbing der Gruppe preisgeben.

Eltern stehen da machtlos daneben. Sie haben längst ausgespielt. Zu spät erkennen sie vielleicht, dass es nicht nur ein positives Zeichen von „früher Selbstständigkeit“ war, wenn ihre Kleinsten seinerzeit beim allmorgendlichen Abschied in der Krippe kein tränenreiches „Theater“ mehr machten. Im schlimmeren Fall zeigt sich dann, dass nicht nur die Kinder keine Bindung an die Eltern entwickelt haben, sondern dass durch die frühe Abgabe der Verantwortlichkeit auch die Bindung der Eltern an ihre Kinder und deren Schicksal unterentwickelt blieb.

Während die praktischen Aufgaben der Haushaltsführung, die den Alltag unserer Großmütter- und Müttergeneration bis zum Rand füllten, heute oft außer Hauses erledigt werden, erfordert die Komplexität der modernen Gesellschaft eher noch mehr Präsenz erwachsener Werte-Vermittler bei den Kindern als früher. Nicht zuletzt soll deren Aufsicht und Begleitung in der virtuellen Welt des Googelns, Chattens und Twitterns, des Face-Books und der Computerspiele durch die Eltern geleistet werden. Dabei sind die Kinder den Eltern allzu oft überlegen in Theorie und Praxis.

Eltern brauchen viel Zeit, um sich schlau zu machen, um mit den Kindern mitzuwachsen, um deren Medienkonsum verlässlich auf ein vernünftiges Maß zu begrenzen und zu begleiten, und nicht zuletzt um Alternativen gemeinsamen Tuns anzubieten. Es geht nicht an, dass wir sehenden Auges und mit hilflosem Schulterzucken die Dämme brechen sehen, die den seelischen Wurzelgrund unserer Kinder schützen!

Das Institut für Demoskopie Allensbach erstellte 2009 für das „Forum Familie stark machen“ des Familienministeriums ein „Generationenbarometer“. Nur 34% der 16- bis 29-Jährigen fanden, dass ihre Väter genügend Zeit mit ihnen verbracht hätten. Nur 16% der Eltern sagten, die Gesellschaft anerkenne ausreichend ihre Erziehungsleistung.

In der Pressekonferenz, in der die Studie vorgestellt wurde, bestand Familienministerin von der Leyen auf ihrer Logik: „Mehr Krippen bedeuten mehr Eltern-Zeit für die Kinder“, weil diese Einrichtungen auch viele organisatorischen Dinge abnähmen. Leider erklärte sie nicht, wie die konkrete Praxis dazu aussieht und beachtet auch nicht, dass Eltern die organisatorischen Dinge mit den Kindern gemeinsam „erleben“ können, vorausgesetzt sie haben die Zeit dafür.

Familienarbeit braucht angemessene Entlohnung

Für die Familie muss in der von Globalisierung und Neoliberalismus geprägten Welt der Schutzschild erheblich verstärkt werden, wenn ihr völliges Versagen verhindert werden soll. Durch einen Erziehungs- und Betreuungslohn ist ein sicheres Grundeinkommen zu gewährleisten, das die Gesellschaft allen Eltern zahlt. Dadurch wird auch eine echte Wahlfreiheit geschaffen: Entweder Eltern übernehmen die Erziehung ihrer Kinder selbst oder sie bezahlen mit dem Geld eine außerhäusliche Betreuung, während sie einem anderen Beruf nachgehen.

„Mehr Freiheit für Eigenverantwortlichkeit“, der Wahlspruch der heutigen Liberalen, scheint sich merkwürdigerweise nur auf die Wirtschaft zu beziehen. Die Familie dagegen wird durch das Konzept der frühestmöglichen Fremdbetreuung von Kindern bei möglichst lückenloser Erwerbstätigkeit der Eltern – ob von diesen so gewünscht oder nicht – in unerhörter Weise gegängelt. Der „Arbeitsplatz Familie“ wird künftig ein normaler Erwerbsarbeitsplatz sein – oder Familie wird nicht mehr sein!


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